Zerstörte Fenster. Durchs Vergrößerungsglas betrachtet – und was wir verloren geben müssen
Die Vielzahl der bezaubernden Geschichten – von Plinius’ Beschreibung des Flusses Belus im syrischen Phönizien bis hin zu zeitgenössischen Glasstudien – beschwören Glas und Design als eine manchmal beunruhigende, aber lang andauernde Verbindung über Jahrhunderte und geopolitische Trennungen hinweg. In diesen Werken gehören die ukrainischen Glasmalereien der Sowjetzeit sicherlich nicht zu den Objekten, die sich mühelos aus dem Inventar der Forscher hervorholen lassen, obwohl sie eine Vielzahl von aufschlussreichen Erkenntnissen ermöglichen. Als Teil der räumlichen Gestaltung öffentlicher Gebäude tragen sie den Aspekt von Zeitlichkeit in den sie umgebenden Raum. Sie verdeutlichen die wechselseitige Bedingtheit von Zeit, Ort und Körper und erweitern Alltagspraktiken über architektonische Grenzen hinaus. Als historische Artefakte zeugen sie vom Streben nach künstlerischer Freiheit jenseits der Doktrin des Sozialistischen Realismus und machen die Existenz des Raums nach außen sichtbar. Dabei sind sie nicht nur in Abhängigkeit von den technischen Zwängen des Mediums, sondern auch in neuen Formen des menschlichen Miteinanders entstanden. Denn um die Knappheit an Lohn, Material und Werkzeug überwinden zu können, stützten sich die Künstler:innen auf ihre Berufsgemeinschaften.
Die kuratorische Geste in Richtung Glasfenster inmitten der völkermörderischen, glühenden Strudel der russischen Retrotopie weckt viele vorweggenommene Assoziationen. Zerbrechlichkeit, Reflexion, Transparenz, Hoffnung, zerstörte Vitrinen in den geplünderten Museen der zurückeroberten Gebiete stehen vielleicht am Beginn dieser Liste. Ohne diese Plünderungen zu negieren (und ohne auf die Orte der Kriegsgräuel in der Ausstellung zu verweisen) möchte ich weitere Reflexionen in Auseinandersetzung mit Zygmunt Baumans mahnenden Werken skizzieren. Retrotopien zielen auf die Vergangenheit, wobei einerseits die selektive Erinnerung einer Gruppe ihr Anrecht auf territoriale politische Souveränität zugesteht, während andererseits das Kulturerbe die Trennung zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘ verstärkt. Bei der Konzipierung einer Ausstellung über das sozialistische Erbe – von dem einiges, besonders ‚die Freundschaft der Völker‘, als Zustimmung zum russischen Angriffskrieg missbraucht wird – besteht eine der Möglichkeiten der Vergangenheitsbewältigung darin, Baumans einfühlsamer Form der Geschichte zu folgen, nämlich dass Geschichte ,nicht von den großen, sondern von den kleinen Menschen gemacht wird‘ (wie es Leonidas Donskis ausdrückte). Die ausgewählten Künstler:innen sind selbst in der Ukraine nur einem kleinen Kreis von Spezialist:innen bekannt. Um im Denken Baumanns zu bleiben: Eine vielschichtige Darstellung ihrer Werke birgt das Potenzial, dem Verlust von Empfindsamkeit und der Gleichgültigkeit entgegenzuwirken.
In einer Welt fließender Ängste, Liebe und schwindender Solidarität schlage ich vor, über die zunehmende Zähflüssigkeit – Resistenz und Resilienz –, die der Bildung von Glas vorausgeht, nachzudenken sowie über die Wiederherstellung von Orten menschlichen Miteinanders, denen die Glasmalereien, die in ihrer Zwischenposition Innen und Außen gleichermaßen umschließen, zum Symbol werden können.