Papierarchitektur. Visionäre Modelle für eine Kultur der Gemeinschaft

Kann Design auf den Bereich der Theorie beschränkt werden? Kann ein Papier-Projekt über seine fragile Zeitlichkeit hinaus bestehen? Konnte sich Design hinter dem Eisernen Vorhang, isoliert von internationalen Trends, entfalten, und kann man überhaupt von Isolation sprechen? Wie können wir uns den verschiedenen nationalen Landschaften des sowjetischen Designs nähern und es mit dekolonialem Blick neu deuten? In der Ausstellung wird eine alternative Lektüre der Geschichte des sowjetischen Designs vorgeschlagen. Sie lädt dazu ein, eigene Antworten auf die unbeantworteten Fragen zu finden.

Sowjetisches Design war von Natur aus utopisch. Bereits der Begriff ‚Design‘ wurde durch zwei Bezeichnungen ersetzt: ‚Künstlerische Technik‘ für Designpraxis und ‚Technische Ästhetik‘ für Designtheorie. Diese Trennung von Theorie und Praxis war durch Besonderheiten der sowjetischen Wirtschaft bestimmt. Die Staatsbetriebe waren vorrangig daran interessiert, die auf Rüstungs- und Schwerindustrie ausgerichteten Produktionsziele zu erreichen, statt Bedürfnisse der Verbraucher:innen zu erforschen. In einem planwirtschaftlich gesteuerten Markt hatten die Bürger:innen keine andere Wahl, als das zu kaufen, was gerade erhältlich war. Ein neuer Designvorschlag stieß daher eher auf Ablehnung, würde er doch die Unternehmen an der Erfüllung ihrer Ziele hindern.
Für ein alternatives Konzept des sowjetischen Designs, das jedoch nicht weniger utopisch war, steht das Zentrale didaktisch-experimentelle Studio der Vereinigung bildender Künstler der UdSSR (Senezh-Studio, 1964–91). Es wurde von dem Architekten Jewgeni Rosenblum (1919–2000) und dem Philosophen Karl Kantor (1922–2008) gegründet, später kam der Künstler Mark Konik (*1938) hinzu. Der von ihnen eingeführte Begriff der ‚künstlerischen Projektierung‘ beruht auf dem Primat künstlerischer und kultureller Prinzipien im Design. Ausgehend vom Konzept der ‚offenen Form‘ waren die Senezh-Designer davon überzeugt, dass jedes Objekt nicht durch seine Funktionalität, sondern den kulturellen Kontext seines Gebrauchs definiert werde.
Während Architektur und Industriedesign der Kontrolle staatlicher Organisationen unterlagen, verblieben Raum- und Umweltgestaltung in einer Grauzone, in der Künstler:innen ihr kreatives Potenzial entfalten konnten. Mehr als 1.500 Künstler:innen und Architekt:innen aus über 50 Städten in der UdSSR, Polen, der DDR und Bulgarien wurden mit staatlichen Fördermitteln im Senezh-Studio ausgebildet. Darüber hinaus organisierte das Studio Forschungsreisen in verschiedene Städte der russischen und anderen Sowjetrepubliken wie Aserbaidschan, Armenien, Belarus, Tadschikistan, Ukraine, Usbekistan und in der Mongolischen Volksrepublik. Die Teilnehmenden der von Senezh organisierten Workshops lernten, in kleinen Gruppen zu arbeiten und ihre eigenen Vorstellungen im Rahmen kollektiver Projekte zu verwirklichen. Auf diese Weise konnte das Studio zahlreiche Gestaltungsvorschläge für sozialistische Städte, Fabriken und Museen einreichen, von denen die meisten leider nicht über das Entwurfsstadium hinaus kamen. Doch wurden die Zeichnungen und Papiermodelle als eigenständige Kunstwerke und Schritte eines unendlichen kreativen Prozesses betrachtet.

Alyona Sokolnikova