Freiräume für Individualität. Die Architektenfamilie Karakis

Im 20. Jahrhundert erlebte die Architektur in der Ukraine mehrere Katastrophen und radikale Kurswechsel. Dabei ging es nicht allein um architektonische Stile, sondern um den Status des Berufsstandes selbst. Nach 1955 verwandelten sich schöpferische Architekt:innen allmählich in pflichtbewusste Bauzeichner:innen: Fortan konzentrierten sich die Architekturschaffenden vor allem auf die Entwicklung und Vervielfältigung von Standardentwürfen für Wohnsiedlungen. Nur ein kleiner, dafür jedoch prestigeträchtiger Teil der Entwurfsaufgaben widmete sich öffentlichen Einzelprojekten. Daneben existierte die sogenannte ‚Papier-Architektur‘ – ein Gebiet, in dem sich Kreativität und utopische Ideen entfalten konnten.
Geradezu exemplarisch für die Geschichte der ukrainischen Architektur im 20. Jahrhundert ist die Biografie von Iossif Karakis (1902–88). In den 1920–30er Jahren, der Ära des Konstruktivismus, wurde er schnell zu einem gefragten Architekten. Nach einer weiteren ideologischen ‚Säuberung‘ enthob man ihn jedoch 1951 aus allen seinen Ämtern. Dank einiger Freunde fand er bald Anstellungen in verschiedenen Forschungs- und Planungsinstituten. 1977 begann er mit der Arbeit an seinem visionären Projekt Wohnen in naher Zukunft in Kyjiw. Sein Leitgedanke war, dass der Mensch als biologisches Wesen im Einklang mit der Natur leben sollte.
Irma Karakis (1930–2022), die Tochter des Architekten, trat zunächst in dessen Fußstapfen. Sie schlug jedoch bald ihren eigenen Weg ein und machte sich als Innenarchitektin und Möbeldesignerin einen Namen. In den letzten Jahrzehnten der UdSSR eröffnete insbesondere die Innenarchitektur Freiräume für individuelles Gestalten und einzigartige Projekte. Das Interieur des Ukraine-Palastes, einer Konzerthalle in Kyjiw, ist eines der ikonischen Werken von Irma Karakis. Es besticht durch den Kontrast von seltenem Naturstein mit dem warmen Goldton von Walnussholz. Eine ungewöhnliche Lichtinstallation verstärkt die feierliche Atmosphäre – mit Lampen aus Gussglas, deren Oberfläche und Farbe wie ‚schmelzendes Eis‘ wirken.
Unter berühmten Beispielen für Architekten-Dynastien finden sich nur höchst selten Vater und Tochter. Beiden Mitgliedern der Künstlerfamilie Karakis war die Suche nach Freiheit und Individualität angesichts aller Restriktionen immer ein wichtiges Anliegen. Insofern ist die Präsentation ihrer Werke von besonderer Bedeutung.

Alex Bykov
1bFreiräume für Individualität
Die Architektenfamilie Karakis, Foto: David von Becker