Ästhetik der Schrankwand. Die Geburt der Plattenbau-Kultur

In der Phase der ,Normalisierung’ nach dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei versuchte der nicht-reformistische Flügel der Kommunistischen Partei, seine Macht mit politischen Säuberungen, Wiedereinführung der Zensur, dem Verbot von politischen Organisationen und Interessengruppen zu konsolidieren. Dies führte zu einer kollektiven Resignation in der Gesellschaft, noch verschärft durch eine große Auswanderungswelle. Eine Strategie des kommunistischen Regimes, um die aufgeheizte politische Stimmung zu beruhigen und die Bevölkerung von den politischen Ereignissen abzulenken, war die Förderung von Konsum und besserer Verfügbarkeit von Wohnraum. Die Möglichkeit, die eigene Wohnung zu kaufen, verband sich mit der unausgesprochenen Aufforderung, sich loyal gegenüber der Kommunistischen Partei zu verhalten und jegliche Kritik zu unterlassen.
Das exponentielle Wachstum des Wohnungsbaus wurde durch die technologische Entwicklung der Plattenbauweise begünstigt. In sehr kurzer Zeit konnte Wohnraum für ein Drittel der tschechoslowakischen Bevölkerung geschaffen werden. Die Plattenbausiedlungen unterschieden sich so deutlich von allem bisher Gebauten, dass Fachleute aus Architektur, Stadtplanung, Industrie, Soziologie und Psychologie sowie allen voran die Bewohner:innen selbst alles taten, um aus den neuen Wohnanlagen lebenswerte Orte zu machen. Aufgrund der großen Zahl an Wohnungen bedurfte es der Kooperation mit anderen Industriezweigen, die Möbel, Textilien und Küchengeräte lieferten. Das Ineinandergreifen von neuer Bauweise und massenhaftem Bezug neuer Wohnräume brachte das neuartige Phänomen der Plattenbau-Kultur hervor: einen Lebensstil, der alle positiven und negativen Aspekte des Lebens in einer Plattenbau-Wohnung in sich vereinte. Das Wohnzimmer wurde zu dem Raum, dem man die meiste ‚ästhetische Sorgfalt’ widmete, nicht zuletzt wegen seiner repräsentativen und sozialen Funktion. Herzstück bildete das Fernsehgerät, das 1976 in 98 % der tschechoslowakischen Haushalte vorhanden war. Ein weiteres Statussymbol und Beleg für gesellschaftliches Ansehen war – neben Fernseher und Auto – die das Wohnzimmer dominierende Schrankwand.

Der Architekt und Möbeldesigner Gerald Neusser entwarf 1971 die Schrankwand Radikál. Im Produktkatalog zur Einführung schrieb er: ‚Lösungsmodelle für Wohnräume und deren Ausstattung entstehen aus dem Kontext sozialer und kultureller Bedürfnisse. Insbesondere wenn das Leben unter Bedingungen zwischen traditionellen Lebensstilen, gesellschaftlicher Repräsentation und Anforderungen der Hygiene stattfindet und die Zeit von denen, die arbeiten, und denen, die zur Schule gehen, zwischen Privatleben und Haushalt eingeteilt werden muss. Wenn unsere Wohnung gleichermaßen Arbeitsraum, Werkstatt, sozialer Raum, Kino, Bügelzimmer und Debattierklub sein und zugleich ein Ort bleiben soll, der uns am Herzen liegt, dann müssen wir uns alle dafür einsetzen und Raumaufteilung, Möbel und Hausrat entsprechend gestalten.‘

Rostislav Koryčánek
6bÄsthetik der Schrankwand
Ästhetik der Schrankwand. Die Geburt der Plattenbau-Kultur, Foto: David von Becker